60 Jahre Kriegsende
Jeeps und Panzer rückten in Wörth ein
Wolfgang Helle erinnert sich an Kriegsende – Amerikaner betrachteten ihn als „Werwolf“
von Reinhard Soller (aus Donau-Post vom 12.05.2005)
Während der chaotischen letzten Jahre des „Tausendjährigen Reiches“ gelangte Wolfgang Helle auf abenteuerliche Weise nach Wörth, wo er zunächst auf dem Schloss weilte. Der Berliner Schuljunge erlebte den Einmarsch der Amerikaner mit, die ihn und seine Kameraden als „Werwölfe“ betrachteten, also als Angehörigen einer Organisation, welche die Nazis in den letzten Kriegstagen als eine Art Partisaneneinheit rekrutieren wollten. Die Amerikaner nahmen ihn deshalb kriegsmäßig gefangen.
Die schweren Luftangriffe auf Berlin am 23. und 24. August 1943 hatten zur Folge, dass Frauen und Kinder evakuiert wurden. Damit begann für Helle und 150 Schulkameraden eine Odyssee, die bis zum Kriegsende und darüber hinaus dauern sollte und ihn in die Tschechoslowakei und am Ende nach Wörth und zur Familie Alois Piendl in Piehl führen sollte. Nachdem die russische Front immer näher gekommen war, flohen die Deutschen im April 1945 aus dem damaligen Protektorat Böhmen und Mähren. In Schwandorf wurden Helle und seine Schulkameraden in der Nacht zum 17. April Zeuge eines schweren Luftangriffs, bei dem rund 2000 Menschen den Tod fanden.
Unterbringung auf dem Schloss
Mit der Walhalla-Bahn fuhren die verbliebenen 60 Jungen, der Rest war etwa zum Volkssturm oder als Flakhelfer eingezogen worden, einige Tage später mit ihrem Englischlehrer Dr. Thamm und dem Mathelehrer Dr. Hensel nach Wörth. Sie wurden im Schloss Wörth untergebracht, wo bereits eine gleichgroße Anzahl von Hitlerjungen (HJ) und eine SS-Einheit untergebracht war. Helle selbst war zum Rübenhacken auf den Hof der Familie Weikl nach Giffa gekommen. Er erinnert sich an Tieffliegerangriffe zu dieser Zeit. Obwohl die Piloten hätten erkennen können, dass es sich um Kinder handle, hätten die Flugzeugführer auch Buben und Mädchen attackiert. Nach dem Abzug der SS-Soldaten, drei Tage bevor die Amerikaner kamen, waren die Schüler die letzten Verbliebenen auf dem Schloss.
Helle erinnerte sich, wie die Vorhut der Amerikaner mit gepanzerten Jeeps und leichten Schützenpanzern am 25. April in Wörth einrückte. Da die GIs die Schüler für gefährlich hielten, weil sie sie als „Werwölfe“ ansahen, mussten die Heranwachsenden mit erhobenen Händen das Schloss verlassen. Die HJ-Messer wurden ihnen abgenommen und die Jugendlichen wurden für einige Tage in der Brauerei Bach oder in anderen Gebäuden interniert. Bei ihrem Fußmarsch vom Schloss fielen ihnen zahlreiche blauweiße Rautenfahnen und weiße Fahnen auf, welche die Wörther beim Einmarsch der Amerikaner an den Häusern und anderswo angebracht hatten.
Stundenlange Kanonade
In der Nacht nach der Einnahme Wörths war stundenlanges Geschützfeuer zu hören: Die Amerikaner nahmen Ziele jenseits der Donau unter Beschuss, wo sich Widerstand durch SS-Einheiten und Wehrmacht zeigte.
Da eine Verpflegung wie bisher nicht möglich war, mussten Helle und seine Kameraden ziemlich hungern. Einige Tage später jedoch bauten die Amerikaner eine komfortable Feldküche und -bäckerei auf. In der Nähe des Bahnhofs war ein Sportplatz. Dort standen die Haubitzen und ein großes Biwak wurde eingerichtet. Die amerikanischen Soldaten erhielten ihr Trinkwasser aus Frankreich. Große Tankwagen waren hierfür unterwegs. Es herrschte große Angst vor vergifteten Brunnen und Quellen.
Nach kurzer Zeit konnten die Schüler sich aufgrund ihrer Englischkenntnisse mit den Amerikanern verständigen. Sie schnorrten einige Lebensmittelpakete, welche die Soldaten für sich erhalten hatten.
In der Zeit nach der Einnahme Wörths wurden alle Lehrer der Schüler, welche NSDAP-Mitglieder waren, in Haft genommen und in das Zuchthaus nach Straubing gebracht. Nach der endgültigen Besetzung Wörths und Durchsuchung des Schlosses zerschlugen die amerikanischen Soldaten zahlreiche antike Vorderlader-Jagdwaffen an der Schlossmauer. Viele Gewehre hatten ausschließlich musealen Wert.
Die Furcht vor „Werwölfen“, Verschwörungen und Anschlägen war auch einige Tage später auf Seiten der Amerikaner noch sehr groß. Auf Anordnung des Stadtkommandanten wurden die Schüler einzeln auf Bauernhöfe in der Umgebung Wörths gebracht. Damit sollte eine Gruppenbildung der ehemaligen Hitlerjungen verhindert werden. Die Schüler waren höchstens 14 Jahre alt. Wer älter war, wurde eingezogen oder musste Verteidigungsanlagen errichten.
„Großes Glück gehabt“
Wolfgang Helle erinnert sich: „Ich hatte großes Glück, bei der Familie Alois Piendl unterzukommen. Diese Familie half mir sehr über meine elternlose Zeit hinweg. Auch ist mir der jüngste Sohn Xaver ein Freund und Helfer in jeder Beziehung gewesen.“
Ende Mai 1945 zog sich Helle eine schwere Verletzung am rechten Bein zu. Er wurde im Wörther Krankenhaus operiert und vorbildlich gepflegt. Der Berliner denkt oft an seinen Wörth-Aufenthalt zurück und hat in der Vergangenheit die Stadt mehrfach besucht.